AG – SCHREIBWETTBEWERB
Siegergeschichte Thema: Zeitreise 2018
ZWISCHENEIS von Fiona Schwab
Zwischeneis von Fiona Schwab Die Kälte ist wie ein stechender Schmerz. Wir hatten uns für unsere Tour extra einen erfahrenen Bergführer gesucht, er war uns empfohlen worden: „Björn ist der Beste. Keiner kennt sich so gut da oben bei den Gletschern aus wie er“, haben sie gesagt. Aber Björn kann uns jetzt auch nicht mehr helfen. Der Ruck, der durch das Seil ging, als er stürzte, hatte uns auf dem spiegelglatten Eis alle mit in die Tiefe gerissen. Er war noch tiefer gefallen als wir. Ich weiß nicht, wie tief diese Gletscherspalte ist. Eigentlich will ich es aber auch gar nicht wissen.Sie ist jedenfalls tief genug, um vier Menschen zu verschlucken und aus ihnen eine Erinnerung zu machen.
„Gletscherspalten sind gefährlich“, haben sie gesagt. „Auf der Strecke gäbe es viele, teils von Schnee bedeckt, so dass man sie nicht sehe“, haben sie gesagt. Als Björn nach einem gefühlt stundenlangen Kampf sein Sicherungsseil durchgeschnitten und damit seine Verbindung zu uns aufgegeben hatte, hörten wir nur einen dumpfen Laut. Ein Laut, der mich unter anderen Umstän-den kaum hätte aufblicken lassen und der mich nun ins Mark erschütterte. Wir waren zwar beim Einbruch der Eisdecke nicht so tief gefallen wie Björn, aber dennoch tief genug, um nicht wieder herauszukommen. Wir waren gefangen im Eis. Wie lange konnten wir hier überleben? Wie lange würde es dauern, bis wir hier erfroren? Keiner von uns sagte mehr etwas. Das war auch nicht nötig. Ich spürte förmlich, wie die Angst uns übermannte und uns in Besitz nahm. Wir hatten keine Chance zu entkommen. Wir hatten es aufgegeben, nach Hilfe zu rufen. Niemand hatte uns gehört oder würde uns hören können. Das Eis schluckte unsere Rufe wie ein Schwamm. In dieser blau-weiß glitzernden Enge wurde mir auf einmal klar, wie wenig ich doch über die anderen wusste. Ich kenne Anja schon seit Sandkastentagen, wir verloren uns aus den Augen, als wir in die Schule kamen. Im Studium trafen wir uns zufällig wieder. Sie saß plötzlich einfach in einer meiner Vorle-sungen und sprach mich an. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden, es war, als ob wir nie getrennt gewesen wären. Eines Abends stellte Anja mir Torben vor, er studierte Sport und die beiden waren schon öfter miteinander klettern gewesen.
Ich hatte keine Ahnung, an wen oder was die beiden dachten. Auch wenn wir hier so eng anei-nandergedrückt hingen, war die Distanz zwischen uns unüberwindbar. Wir harrten hier zusam-men und dennoch fühlte ich mich so allein, wie niemals zuvor. Als die Dunkelheit draußen her-einbrach, wurde es, auch wenn das kaum möglich schien, noch kälter. Inzwischen durchfuhr mich bei jedem Atemzug ein stechender Schmerz, wenn die eisige Luft in meine Lungen strömte. Ich bin erschöpft und müde, doch Schlafen ist keine Option. Ich würde nicht mehr aufwachen. Der Kampf um Leben und Tod hatte schon vor Stunden begonnen. Wer wird siegen? Die Natur oder wir? Ob wir leben oder sterben werden, ist wie Balancieren auf einer schmalen Kante. Alles steht oder fällt mit einem einzigen Schritt, einem einzigen Atemzug, einem noch so kleinen Augenblick. Torben ist der erste von uns dreien, der sich ergibt. Er gibt sich ganz in die Hände der Kälte und sie trägt ihn mit sich fort. Langsam sinkt er nieder und gleitet weiter in die scheinbar unendliche Tiefe hinab. Ich kann ihm nicht helfen.
Ein neuer Gedanke durchfährt mich. Ob man überhaupt nach uns sucht? Vielleicht. Unsere Über-lebenschancen sinken mit jeder Minute. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Ich habe keine Kraft mehr zu schreien, keine Kraft zu überleben. Ich fühle, wie sich die Leere in meinem Kopf ausbreitet. Wird einer von uns den Kampf um Leben und Tod gewinnen? Ich bin es nicht. Schweißgebadet schrecke ich hoch.
Es war nur ein Traum.
Nach einer Weile erkenne ich meinen Freund, der mich besorgt von der Tür aus beobachtet. Ich sehe wie seine Lippen sich bewegen, schließlich dringen seine Worte zu mir vor: „Du hast im Schlaf geschrien, du schläfst schon seit Tagen so unruhig. Bist du sicher, dass du dir mit der Bergtour und den ganzen Prüfungen nicht zu viel vorgenommen hast?“ „Ja, natürlich bin ich mir sicher.“ Doch im Moment bin ich mir mit gar nichts mehr sicher. Einige Tage später packe ich wie benebelt die letzten Sachen in den Tourenrucksack.
Es geht los. Als wir am zweiten Tag das Gletscherfeld erreichen, erlebe ich ein Déjà-vu. Verrückt, alles hier sieht genauso aus wie in meinem Traum. An dieser Stelle ist er gefallen, ich erkenne sie sofort. „Er ist nie gefallen“, versuche ich mir zu sagen, „all das war nur ein Streich meines Unterbewusstseins“. Dennoch wirkte alles so real. Dann knackst es plötzlich. Ein Ruck durchfährt mich und meine Füße gleiten unkontrolliert über das Eis... Gletscherspalten sind gefährlich. Sie verschlucken Menschen und machen sie zu einer Erinnerung.